Wie wollen wir zukünftig leben?

Gesellschaftlicher Zusammenhalt braucht Visionen – ein Debattenbeitrag von Till Christofzik

„Wie erleben Sie zurzeit die soziale Verbundenheit?“ Unter dieser Frage diskutierte Akademiedirektor Frank Vogelsang im Philosophischen Radio auf WDR 5 am 8. Mai 2020 über Formen der Solidarität und der Verbundenheit. Studienleiter Till Christofzik kommentiert die Debatte aus Sicht des Themenbereiches „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“.

Freiheitliche Grundrechte, die Möglichkeiten zur individuellen Entfaltung und zur Abgrenzung gehören zu den größten Errungenschaften unserer modernen Gesellschaft. Dafür einzutreten und alles daran zu setzten, diese Rechte auch denen zugänglich zu machen, die an der Inanspruchnahme gehindert werden, sollte zentral für jede*n von uns sein. Trotzdem leben wir nicht losgelöst von einander.

„Eine hoch individualisierte Gesellschaft ist auch hoch labil.“ Gleich eine der ersten Aussagen von Frank Vogelsang in dem WDR 5-Gespräch mit dem Journalisten Jürgen Wiebicke beschreibt, welche Bedeutung soziale Verbundenheit für den gesellschaftlichen Zusammenhalt hat. Mehr noch als die im Beitrag beschriebene essentielle Verbundenheit stehen dabei für mich die diskutierten Formen der Verbundenheit im Zentrum der Aufmerksamkeit: Familien, Parteien, Kirchen und viele weitere.

Die Krise macht Schwächen deutlich, fördert gleichzeitig neue Stärken
Aktuell lässt sich ein signifikanter Abfall in der Wirkmächtigkeit der großen Institutionen feststellen. Parteien und Kirchen verlieren an Mitgliedern und können scheinbar immer weniger Teile der Gesellschaft repräsentieren. Menschen stellen ihre Selbstwirksamkeit in der repräsentativen Demokratie in Frage und soziale Ungleichheit ist in den vergangenen Jahren gewachsen. Nachdem diese Prozesse lange unter der Oberfläche abgelaufen sind, werden sie in der aktuellen Krise deutlich. Armut, unsichere Arbeitsverhältnisse und schwelende Desinformation werden sichtbarer. Der unterspülte Grund bekommt Risse. Gleichzeitig bringt diese Krise neue solidarische Initiativen hervor. Nachbarschaftshilfen sind nur eines der Beispiele. Doch wird dieses Aufflammen von spontaner Hilfsbereitschaft sich in feste Formen übersetzten lassen?

Solidarität braucht gesellschaftliche Strukturen, um wirksam zu werden
Die Zuhörer der Sendung waren hier unterschiedlicher Meinung. Einer meinte, dass lediglich Not die Menschen zusammenbringe, im Frieden würde der Verdruss regieren. Ein anderer beschreibt: „Solidarität gehört zum Menschsein und es besteht die Hoffnung, dass dies so bleibt“. Während ich dem ersten vehement widersprechen würde, nennt der zweite Beitrag einen wichtigen Aspekt, greift aus meiner Sicht jedoch nicht weit genug. Ja, Menschen sind essentiell verbunden. Doch Solidarität braucht mehr. Sie braucht die Formen, in denen sie sich verfestigt und greifbar wird. Hoffnung auf Solidarität allein reicht nicht aus. Vielmehr braucht es eine Vision der Hoffnung, die solidarisch verfolgt werden kann. Warum ist das so?

Zusammenhalt entsteht durch gemeinsam erzählte Geschichten
Von besonderer Bedeutung sind im Blick in Bezug auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht nur die schwindende Prägekraft der Institutionen und das Verwerfungspotential, das durch die Corona-Krise deutlich zu Tage tritt. Auch die von Frank Vogelsang beschriebene Verhaftung des Diskurses in der Gegenwart hat einen Anteil. Denn Zusammenhalt braucht Perspektiven, gemeinsame sinnstiftende Erzählungen, sogenannte Narrative, um im Wandel zu bestehen. Diese gemeinsamen Geschichten stärken unser Vertrauen in unsere Mitmenschen und geben gemeinsamem Handeln eine Richtung. Sie blicken nicht nur zurück, sondern auch nach vorne, indem sie Zukunftsbilder entwerfen. Solche Erzählungen haben Arbeiter*innen im Kampf für gerechte Löhne zusammengeführt, begleiteten die friedliche Revolution in der DDR und seit 2000 Jahren die christliche Gemeinschaft. Was hat Menschen in der Vergangenheit geeint, was kann sie in Zukunft zusammenhalten? Im Beitrag beim Philosophischen Radio hat Frank Vogelsang zum Vergleich auf den Beginn des 19. Jahrhunderts geblickt, als die Gesellschaft sich in der Industrialisierung neu ordnen musste. Diese Zäsur bewirkte nicht nur große gesellschaftliche Verwerfungen, sondern führte auch zu gewerkschaftlicher Solidarität und soziale Sicherungssysteme wurden erstritten.

Welche Zukunftsbilder können wir entwickeln?
Welche hoffnungsvollen Bilder der Zukunft können wir entwickeln – ja vielleicht auch erstreiten –, die eine lebenswerte, gleichberechtige und offene Gesellschaft beschreiben? Welche Visionen der Zukunft haben wir, an denen wir unser gegenwärtiges Handeln messen? Wie kommen wir vom Reagieren ins Agieren?

Eine der Grundüberzeugungen der von Frank Vogelsang beschriebenen Spätmoderne ist, dass gesellschaftliches Handeln immer im Horizont gegenwärtiger Verhältnisse beurteilt werden müsse. Die Zukunft erscheine als Erweiterung der Gegenwart, wissenschaftliche Prognosen würden den Weg in die Zukunft weisen. Von der „Entkopplung des Protestes von allen Visionen eines Besseren“ spricht Axel Honneth in der entsprechenden Fußnote.

Hoffnung auf eine vielfältige Zukunft fördern statt einfacher Lösungen
Mir kommt in diesem Zusammenhang natürlich auch Helmuth Schmidt in den Kopf: „Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen.“ Ein Satz, der – zum Missfallen von Schmidt – tausendfach zitiert wurde und den er als „pampige Antwort auf eine dusselige Frage“ beschreibt. Gerade in einer Zeit des Umbruchs ist die Frage nach einer großen Vision keineswegs eine „dusselige“, sondern eine ganz zentrale Frage.

Im Angesicht einer neuen Normalität, die von verschiedenen Akteur*innen in Aussicht gestellt wird, haben wir die Chance, diese neue Normalität mitzugestalten. Wie wollen wir zukünftig leben? Diese Frage sollte von uns mit einer Vision beantwortet werden können. Das bedeutet nicht, die Augen vor wissenschaftlichen Erkenntnissen zu verschließen. Wenn Prognosen jedoch z.B. darauf  hindeuten, dass auch in Zukunft ein großer Teil von Kindern in Armut leben wird, dann gilt es, diesen Prognosen die Vision einer gerechten Teilhabe an Bildung und Chancen entgegenzustellen, für diese einzutreten und diese Vision in konkrete Schritte umzusetzen.

Wenn wir keine Vision einer vielfältigen und guten Zukunft schaffen, dann werden andere unterkomplexe Lösungen anbieten. Im Beitrag von Frank Vogelsang klang die Gefahr des Nationalen nur kurz an, doch aktuelle Prozesse zeigen, wie leicht Menschen in Verunsicherung auf diese einfache – jedoch gefährliche – Form der Gemeinschaft zurückgreifen wollen.

Es gibt keinen linearen Weg in die Zukunft
Für gesellschaftlichen Zusammenhalt brauchen wir Zukunftsbilder, in denen Menschen eine Perspektive für sich erkennen. Um diese Bilder zu entwickeln, brauchen wir Räume, um sie zu diskutieren und zu erstreiten. Erste Schritte in Richtung dieser Vision sind genauso nötig wie das Bewusstsein, dass es eben keinen linearen Weg in die Zukunft gibt und deswegen nicht jeder Schritt ein sicherer sein kann. Trotzdem braucht es den Mut, gemeinsam aufzubrechen.