„Bestraft werden die Kinder“

Interview

„Das ist ein Dschungel“, sagt Maike Cohrs mit Blick auf die Kinder- und Familienförderung in Deutschland. Im Interview berichtet die Schuldnerberaterin der Diakonie Köln und Region aus ihrer Praxis und plädiert für eine unbürokratische Kindergrundsicherung.

Wie kommt Ihnen in Ihrer Beratungstätigkeit das Thema Kinderarmut entgegen?

Wir haben viele verschuldete Familien, viele Alleinerziehende in unserer Beratung. Da sind natürlich immer auch Kinder mit betroffen.

Können Sie einen typischen Fall aus Ihrer Arbeit schildern?

Ich hatte jetzt in der Corona-Zeit ein Ehepaar in der Beratung. Der Mann arbeitet, die Frau ist zu Hause. Sie haben drei Kinder. Ein Kind hat seit Geburt eine Teilbehinderung. Sie wollten eine Bescheinigung für ein Pfändungsschutzkonto, ein sogenanntes P-Konto, weil sie nach Jahren den Kinderzuschlag beantragt haben. Erst durch die Medien haben sie mitbekommen, dass man einen Kinderzuschlag beantragen kann. Über eine Nachzahlung konnten sie zunächst nicht verfügen, weil ihr Konto mit der Zahlung über dem Freibetrag für Pfändungen lag. Sie sind verschuldet und hatten schon Kontopfändungen erlebt. Die Familie nimmt jetzt die Schuldnerberatung in Anspruch. Man merkt dann, dass eine finanziell überschaubare und gesicherte Lage auch den Kindern zugutekommt, weil das ganz viel Druck von den Eltern nimmt.

Kommt es häufiger vor, dass Ratsuchende schlecht informiert sind über Leistungen, die sie bekommen können, oder dass die Bürokratiehürden sehr hoch sind?

Es ist mittlerweile so, dass es in Deutschland einige Möglichkeiten der Familienförderung gibt, die vielen nicht bewusst sind. Dazu gehören zum Beispiel der Kinderzuschlag, ergänzendes Arbeitslosengeld II, Bildung und Teilhabeleistungen und Wohngeld – Hilfen, die genutzt werden sollten, aber ganz vielen Eltern unbekannt sind. Es ist ja auch nicht so, dass man mit Freundinnen und Freunden darüber spricht und fragt: „Habt Ihr das schon beantragt?“. Das ist ein Dschungel in Deutschland und die bürokratischen Hürden sind extrem hoch.

Ich hatte gestern einen Familienvater mit zwei kleinen Kindern hier. Er ist in Kurzarbeit und wollte Leistungen beantragen. Der Mann ist dann vom Jobcenter zur Stadt wegen der Beantragung von Wohngeld geschickt worden. Für den Kinderzuschlag muss er einen Antrag bei der Bundesagentur stellen. Dann hat er aber einen Packen Papiere bekommen, die er gar nicht ausfüllen konnte. Wie viele andere hat er das erst einmal liegen lassen. Daraufhin hat er ein Schreiben bekommen, dass sein Antrag erloschen sei und ein neuer Antrag erst mit erneuter Abgabe gelten würde. Die Familien haben einen Bedarf und besonders Kinder sind davon betroffen. Da frage ich mich, warum Behörden da nicht unbürokratischer vorgehen können.

Kann eine Kindergrundgrundsicherung etwas bewirken?

Wenn man eine Kindergrundsicherung hätte, die unbürokratisch beantragt werden kann, wäre man schon einen ganzen Schritt weiter. Die Kinder können nichts beantragen. Das müssen die Eltern tun. Wenn die nicht wissen, wie es geht, hakt es schon. Bestraft werden dadurch die Kinder. Bei einer Kindergrundsicherung gebe es Leistungen, die unmittelbar den Kindern zugutekommen und nicht auf Umwegen beantragt werden müssen.

Was bedeutet es für Kinder in einer armen Familie groß geworden zu sein? Vererbt sich Armut?

Es gibt Untersuchungen, dass Armut sich durchaus vererben kann. Die Chancen aus der Armut raus zu kommen, sind für Kinder extrem klein, weil auch das Bildungsangebot für sie eingeschränkt ist. Sie nehmen nicht so wie andere am soziokulturellen Leben teil. Die Kinder sind nicht so integriert, wie Kinder aus besser gestellten Familien. Ganz viele Familien versuchen aber lange die Ausgaben für die Kinder zu stemmen, auch wenn andere Dinge dadurch auf der Strecke bleiben. Das funktioniert bei Armut aber oft nicht auf Dauer. Dadurch gefährden sie natürlich den Gesamthaushalt der Familie. Das macht mich immer ganz traurig. Trotzdem ist das Wohl der Kinder ein Ansporn für viele Eltern.

Welche Wege gibt es denn für betroffene Familien der Armut zu entkommen?

Das sind die einschlägigen Sachen: Dass eine Kinderbetreuung da ist, damit die Eltern arbeiten gehen können, dass man rauskommt aus einem eingefahrenen Familienbild, dass man Alleinerziehende stärker entlastet. Bildung ist wichtig: Kinder aus armutsgefährdeten Familien müssen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können und die gleichen Chancen bekommen. Nur mit einer guten Bildung kann ich einen guten Job haben und aus eigener Kraft aus der Armut herauskommen. Es gibt aber auch hochverschuldete Familien, wo ältere Kinder studieren. Die achten darauf, dass es ihren Kindern einmal besser geht.

 

Mehr zum Thema

„Chancenlose Kinder? Gutes Aufwachsen trotz Überschuldung!“ ist der Titel der 21. bundesweiten Aktionswoche Schuldnerberatung . Durch die Corona-Krise waren öffentliche Veranstaltungen nicht möglich. Eine Aufnahme des Themas für das kommende Jahr wird zurzeit geprüft. Auf der Website gibt es weitere Informationen zum Thema.

 

Zur Person

Maike Cohrs ist Diplom-Pädagogin und Schulden- und Insolvenzberaterin bei der Diakonie Köln und Region. Außerdem ist sie Fachberaterin und stellvertretende Vorsitzende des Evangelischen Fachverbands Schuldnerberatung Rheinland-Westfalen-Lippe. Sie ist 48 Jahre alt, lebt in Brühl, ist verheiratet und hat zwei Kinder.